Reinhard Buskies: Das Konkrete im Blick

Im Werk von Hana Hasilik steht ein einziges geometrisches Formelement im Mittelpunkt: das bikonvexe Lentoid. Seit nahezu drei Jahrzehnten beschäftigt sich die Künstlerin mit der beidseitig ausgewölbten Linsenform, der sie in unterschiedlichen Konstellationen immer wieder neue Aspekte und Betrachtungsweisen abgewinnt. In der Kulturgeschichte hat die Linsenform eine lange Tradition, die sich bis in die Bronzezeit zurückverfolgen lässt. Bereits in der helladischen und minoischen Kultur finden sich Siegel oder Schmuck in Form eines Lentoids (siehe Abb. Stempel). In der zeitgenössischen Kunst hingegen kommt dem Lentoid als geometrischem Formelement überraschend wenig Beachtung zu. Hier hat Hana Hasilik einen eigenen und spezifischen Zugang gefunden.

Auch wenn Hana Hasilik sich nicht dezidiert einer be stimmten Richtung zuordnet, kann ihr Schaffen doch im Kontext der Idee einer konkreten Kunst gesehen werden, wie sie erstmals in den 1920er Jahren formuliert wird. Theo van Doesburg hatte den Begriff 1924 eingeführt und in seinem 1930 veröffentlichten im Gründungsmanifest der Gruppe Art concret ausgeführt. Wesensmerkmal einer konkreten Kunst ist demnach die Abkehr von Abbildhaftigkeit und die Reduktion auf elementare Gestaltungsmittel, denn nichts sei „ konkreter, wirklicher, als eine Linie, eine Farbe, eine Oberfläche. “ 1 In diesem allgemeinen Sinn erweist sich auch die Kunst Hana Hasiliks als konkret; ihre Arbeiten setzen auf die konkrete Erfahrbarkeit von Form und Struktur.

Mit dem Konzept einer konkreten Kunst verbunden ist allgemein das Streben nach Rationalität und Objektivität. Für Max Bill, einen Hauptvertreter der Zürcher Konkreten in der Nachkriegszeit, geht es darum, „ abstrakte Gedanken in einer sinnlichen und greifbaren Form darzustellen “. 2 Für Bill ist die konkrete Kunst „in ihrer letzten konsequenz der reine ausdruck von harmonischem maß und gesetz. sie ordnet systeme und gibt mit künstlerischen mitteln diesen ordnungen das leben.“3 Insbesondere der Gedanke einer Verlebendigung abstrakter Ordnungen mit den Mitteln der Kunst stellt auch für Hana Hasilik ein zentrales Motiv ihrer Arbeit dar.

Zugleich aber geht Hana Hasilik als Angehörige der nachfolgenden Generation über Bill hinaus. Sie folgt einem weiter gefassten Verständnis, wie es in jüngerer Zeit unter anderem vom Museum für Konkrete Kunst in Ingolstadt propagiert wird. Darin erscheint die konkrete Kunst als „eine unmittelbare, auf sinnliches Erleben angelegte Kunstrichtung, […], die nicht die sichtbare Welt abbilden möchte. Daher kommen den Farben, Formen, der Linie und erweitert auch den Materialien eine besondere Bedeutung zu. […] Es geht um Strukturen, Systeme, Rhythmus, Programmierung, Information, Wahrnehmung, gesellschaftliche Utopien und Reformen.“4  Struktur, System und Rhythmus spielen bei Hana Hasilik eine wesentliche Rolle. Aber auch der Aspekt der Wahrnehmung rückt stärker in den Vordergrund im Sinne einer primär ästhetischen Erfahrung, einer Erfahrung, die ihre Evidenz in der Anschauung, in einem konkreten sinnlichen Nachvollzug der Strukturen des Werks erlangt.

Betrachten wir etwa eine Arbeit wie Linie, so ist das zugrundeliegende Gestaltungsprinzip offensichtlich. Keimzelle ist das auf die griechische Zahlenlehre bezugnehmende Modul Tetraktys5 , (Abb. S. 22), bei dem auf einem quadratischen Sockelelement vier diagonal verlaufende Reihen von Lentoiden aufliegen. In der Ecke mit einem einzelnen Lentoid beginnend, erhöht sich die Zahl der Lentoide mit jeder Reihe um eins. In der Arbeit Linie formen 36 dieser Module ein 6x6-Feld und nehmen in der regelmäßigen Anordnung die diagonale Reihung der Binnenform auf. Wesentlich, und auch titelgebend, ist aber nicht das Regelsystem, sondern vielmehr eine sichtliche Linie, die sich als leeres Band diagonal durch die Arbeit zieht.

Dieses Band markiert eine visuelle Leerstelle in der vermeintlichen Symmetrie der Arbeit, einer Abbruchkante gleich, an der das System, seiner internen Logik zum Trotz, nicht vollständig aufzugehen scheint. Ein ähnliches Phänomen lässt sich bei der Arbeit Diagonale beobachten, wo die Linien der Lentoide teils nicht durch laufen, sondern in ihrem Verlauf durch eine kreuzende diagonale Mittellinie unterbrochen werden. Hier wird das System gewissermaßen zum Störfaktor seiner selbst.

Mit der Fokussierung auf die sinnlich erfahrbaren Dimensionen der Plastiken Hana Hasiliks rückt ein weiterer Aspekt in den Blick, nämlich das Wechselpiel von Form, Licht und Schatten. Nehmen wir den Schattenwurf als selbstverständliche Begleiterscheinung der Dinge ansonsten kaum bewusst wahr, so kommt ihm in den Arbeiten von Hana Hasilik besondere Bedeutung zu. In der Anschauung ihrer Werke wird der Schatten zu einem gestalterischen Element, das je nach Lichteinfall die Erscheinungsform variiert.

Dies verdeutlichen insbesondere die Schwarz-Weiß-Fotografien der Plastiken in diesem Band. Wie stark sich die Wirkung der Arbeiten unter dem Einfluss des Lichts verändern kann, wird anhand der beiden Abbildungen der Arbeit Freiraum  ersichtlich, die jeweils in unterschiedlicher Beleuchtung fotografiert wurde. Während in der einen Abbildung die Schattenwürfe kaum sichtbar sind, treten sie in dem anderen Foto als ins Negativ invertierte Formen sichtlich hervor und erscheinen optisch gleichwertig zu den Lentoiden selbst.

An der besonderen Wirkung von Licht und Schatten hat nicht zuletzt die materielle Beschaffenheit der Plastiken ihren Anteil. Die Verwendung von weißem Ton, der Verzicht auf Farbigkeit oder eine spiegelnde Glasur lässt das Wechselspiel von Licht und Schatten umso deutlicher hervortreten. Die weiße, matte Oberfläche wird geradezu zur Projektionsfläche für die Schattenform. Dies zeigt sich beispielsweise in Arbeiten wie Bewegung, wo der Schattenwurf den rhythmischen Charakter der Anordnung sichtlich betont oder Triktys (Abb. S. 31), wo der Schattenwurf wie eine Fortführung der skulpturalen Anordnung auf der Wand oder Unterlage erscheint.

Nicht zuletzt sei auf die gesellschaftlichen Implikationen im Werk Hana Hasiliks eingegangen. Auch wenn die Arbeiten abstrakt daherkommen und zunächst keine Botschaften außerhalb ihrer selbst transportieren, schwingt im Schaffen Hana Hasiliks unterschwellig eine politische Komponente mit. Für Hasilik, die in jungen Jahren das kommunistische System in der Tschechoslowakei der 1950er und 60er Jahre miterlebte und 1970 in den Westen flüchtete, ist letztlich auch ihre abstrakte For mensprache mit den persönlichen politisch-gesellschaft lichen Erfahrungen konnotiert. Darauf verweisen Werktitel wie Freiraum, Die neue Gesellschaft oder Neuen Anfang wagen . Immer wieder geht es dabei um die Haltung des Individuums in einem offensichtlichen oder auch latenten gesellschaftlichen Konformismus. Eine Arbeit wie Freiraum etwa lässt sich vor diesem Hintergund lesen als Modell eines Ausscherens aus der Reihe, einer Erschließung oder mitunter Erkämpfung von Freiräumen, besonders unter den Bedingungen restriktiver Gesellschaften.

Im Rahmen dieser Ausführungen konnten nur einige Aspekte der Kunst Hana Hasiliks beleuchtet werden. Doch sollte deutlich geworden sein, dass es hierbei niemals um das Abhandeln abstrakter Formprinzipien geht – das wäre ohnehin ein falsch verstandener Begriff von konkreter Kunst. Vielmehr geht es um einen lebendigen Austausch von Werk und Betrachtenden. Die Plastiken erweisen sich darin als Herausforderungen an ein bewussteres Sehen, mehr noch: Sie fordern heraus zu einem „anschaulichen Denken“, wie es der Wahrnehmungspsychologe Rudolf Arnheim genannt hat.6 

Reinhard Buskies, Kunsthistoriker, ist Künstlerischer Lei ter des Kunstvereins Bochum

1 zitiert nach: https://de.wikipedia.org/wiki/Konkrete_Kunst, aufgerufen am 26.4.2024
2 siehe hierzu: https://www.p55.art/de/blogs/p55-magazine/was-ist-dasund-was-sind-die-merkmale-der-konkreten-kunst, aufgerufen am 25.4.2024
3 Max Bill, Katalog zu Ausstellung Zürcher konkrete Kunst, 1949, zitiert nach https://de.wikipedia.org/wiki/Konkrete_Kunst, aufgerufen am 25.4.2024
4 Internetseite Museum für Konkret Kunst, Ingolstadt, https://www.mkk-ingolstadt.de/ueber-uns/was-ist-konkrete-kunst/, aufgerufen am 24.4.2024
5 In der Zahlenlehre der antiken Pythagoreer bezeichnet der Begriff Tektraktys die Ganzheit der Zahlen 1 bis 4, deren Summe die für das Dezimalsystem maßgebliche Zahl 10 ergibt und der damit eine zentrale Rolle in der Kosmologie und der Musiktheorie als Schlüssel zum Verständnis der Weltharmonie zukommt.
6 siehe hierzu: Rudolf Arnheim, Anschauliches Denken. Zur Einheit von Bild und Begriff. Köln, 1996; sowie: ders., Kunst und Sehen. Eine Psychologie des schöpferischen Auges, Berlin, New York, 1978.